Über den Wolken…

Samstag, 21. März 2020, Flug Emirates EK 523 von Thiruvananthapuram (Kerala) nach Dubai (VAE). Abflug 04:30 Uhr, also noch in der Nacht, bei absoluter Dunkelheit. Die Plätze waren nur zu ca. 60% belegt. Als die Flughöhe erreicht war, alle wichtigen Dinge erledigt und alle Passagiere versorgt waren, trat diese einzigartige, irgendwie intime Stimmung ein, wie sie jeder, der schon mal einen langen Nachtflug gemacht hat, kennt. Die Cabin Crew hat sich zurückgezogen, die Passagiere die noch freien Plätze in Beschlag genommen, um sich bequem auszustrecken. Manche liegen sogar quer über die mittlere Viererbank und schlafen bereits tief. Das Licht ist stark heruntergedimmt, über den Fluren erscheinen die für Emirates typischen kleinen LED-Leuchten, die einen Nachthimmel simulieren. Das Flugzeug liegt ruhig wie ein Brett in der Luft. Da es keinen Bezugspunkt mehr gibt, hat man als Passagier kein Gefühl mehr für die Geschwindigkeit. Die Zeit scheint nur sehr langsam zu vergehen. Gelegentlich hört man das entspannte Schnarchen eines Reisenden. Ein kleiner Junge in der Nähe phantasiert Unverständliches zwischen Traum und Wirklichkeit. Ein Säugling erwacht und fordert lautstark seine nächste Portion. Die junge Mutter bemüht sich, dies möglichst schnell zu erledigen, um die Stille wiederherzustellen.

Ich selbst kann nicht schlafen. Auch nach so vielen Flügen ist diese Art des Reisens für mich immer noch etwas Besonderes. Wahrscheinlich ist es mein Unterbewusstsein, das mir verbietet einzuschlafen, man könnte ja etwas Interessantes verpassen. Aber es geschieht lange nichts. Die Zeit vergeht weiter nur sehr zäh.

Plötzlich sehe ich einen Lichtschein. Ein Spotlight geht an, direkt vor mir in einem Quergang, der dem Kabinenpersonal vorbehalten ist. Ich sitze in der Mitte der linken Dreierreihe und kann ein winziges Stückchen in diesen Gang hineinsehen. Eine Hand öffnet das Türchen eines Einbauschrankes, dahinter erscheint ein Spiegel, etwa in der Größe eines DINA4-Blattes. Im Spiegel erkenne ich das Gesicht der Stewardess, die für unseren Bereich zuständig ist. Offensichtlich prüft sie, ob ihr Make-Up für die nächste Schicht noch in Ordnung ist. Sie ist ganz auf sich selbst fokussiert und fühlt sich völlig unbeobachtet. Ich selbst fühle mich, dieser Situation entsprechend, ein bisschen wie ein Voyeur am Schlüsselloch.

Sie zieht die Augenbrauen weit nach oben, macht damit ihre ohnehin schon großen Augen noch größer und dreht dabei langsam den Kopf von links nach rechts und wieder zurück. Alles perfekt! Langsam geht ihr Blick weiter nach unten, über die Wangen und die Nase hin zu ihrem Mund. Immer noch alles perfekt. Da plötzlich erscheint eine ärgerliche, kleine, senkrechte Falte auf ihrer Stirn. Irgendetwas stimmt mit dem Lippenstift nicht. Sie macht als erstes das, was alle Frauen machen. Sie presst Ober- und Unterlippe gegeneinander und lässt sie über die Zähne rollen, um eine gleichmäßige Schicht zu erreichen. Das Ergebnis ist nicht zufriedenstellend. Nun probiert sie alle möglichen Mundstellungen, vom „Kussmund“ bis zum „Zähne-Zeigen“. Bei dieser letzten Übung entfernt sie einen winzigen Rest von Lippenstift auf einem ihrer schneeweißen Zähne, den sonst niemand auf der Welt jemals entdeckt hätte.

Die senkrechte Falte auf der Stirn wird kleiner, aber sie ist noch da. Schließlich entscheidet sie sich für eine Radikalkur. Mit einem Kosmetiktuch entfernt sie praktisch den gesamten Lippenstift und mit ihrer jahrelangen Routine trägt sie ihn innerhalb kurzer Zeit wieder auf.

Jetzt ist die Falte auf ihrer Stirn ganz weg. Sie setzt ihr Häubchen der Emirates-Uniform mit dem kleinen halbseitigen Schleier auf und schenkt sich selbst im Spiegel ein stolzes Lächeln. Sie schließt die Schranktür, löscht das Licht aus und tritt heraus in den Hauptgang.

In diesem Moment geht über der Arabischen See die Sonne auf. Ihre Strahlen erhellen das makellose Gesicht einer jungen, arabischen Frau, selbstbewusst und stolz. Sie freut sich auf den kommenden Tag.

Aber sie weiß natürlich auch, dass dies wohl für lange Zeit ihr letzter Flug war. Noch am selben Tag, nur wenige Stunden später, wird der weltweite Lockdown des internationalen Flugverkehrs Corona-bedingt in Kraft treten.

CLM.

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